Die Rede zur Zeitenwende liegt über zwei Jahre zurück, genau wie die russische Vollinvasion der Ukraine. Russland hat mental und ökonomisch auf totalen Krieg umgestellt, die deutsche Bevölkerung die Bedrohung aus Moskau wieder weitgehend verdrängt, die Aufrüstung der Bundeswehr geht eher schleppend voran. Warum?


Seit Jahren fluten russische Bots unser Land mit Fake-News, ständig wird uns Krieg und Auslöschung angedroht. „Blank“ stehe man da, schreibt Alfons Mais, Generalinspekteur des Heeres, am Morgen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine auf LinkedIn. Die Munition, das erfährt die Öffentlichkeit dann kurze Zeit später, reicht nur für wenige Tage. Als Olaf Scholz die Zeitenwende verkündet, ist sie lange überfällig. Denn die Bundeswehr ist in Jahrzehnten kaputtgespart.

Obwohl Logistik Kriege gewinnt: Niemand erlangt Ruhm, wenn er das Ersatzteillager auffüllt. Ein hochintensiver Krieg wie in der Ukraine wird nicht durch Wunderwaffen gewonnen, sondern durch Material, dessen Produktion und Verfügbarkeit. Dreißig Taurus-Marschflugkörper werden den Krieg nicht entscheiden. Industriekapazitäten allerdings schon. Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die Rüstungsindustrie ist renommiert, stellt hervorragende Waffen her und hat eine große Tradition. Die Frage ist: Warum dauert trotzdem alles so lang?

Wie die zwei Prozent nach 2027 finanziert werden, ist unklar.

Man habe bereits viele Kapazitäten aufgebaut, sagt Dr. Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des BDSV, des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, teilweise „massiv“. Von den Unternehmen könne aber nicht erwartet werden, dass sie ohne langfristige Planbarkeit investieren, zumal bis heute niemand wisse, wie im Bundeshaushalt „und speziell im Budget des Bundesverteidigungsministeriums“ über 2027 hinaus die Zusage der zwei Prozent NATO-Quote abgebildet werden solle. „Skalierung läuft und wird von den Unternehmen voll mitgetragen, wenn ausreichende Planungssicherheit hergestellt worden ist.“ 

Immer schon ein Problem in westlichen Demokratien: Wer bezahlt eigentlich die Munition?

Tatsächlich läuft es, wie es eben laufen kann, denn die Unternehmen der deutschen Rüstungsindustrie sind privatwirtschaftlich organisiert - überwiegend kleinteilig. Dazu kommen Zulieferer, auch dort fast alles mittelständische Unternehmen. Über 300 kleinere Firmen sind es insgesamt, die Rüstungsgüter und Vormaterialien an große Unternehmen liefern. Die Kleinteiligkeit ist Absicht: Nach dem Dritten Reich hat man die großen Strukturen in diesem Bereich zerschlagen. Die Mittelständer tun sich aufgrund ihrer Größe schwer mit der Vorfinanzierung – und damit auch mit der Skalierung der Produktion, bevor Aufträge unterzeichnet sind. Dem Tempo hilft das nicht.

Die deutschen mittelständischen Rüstungsunternehmen müssen anders als Unternehmen in den USA, Frankreich oder Italien, ohne die schützende Hand des Staates auskommen. Investitionen sind aber immer eine Frage des Ertrages. Die deutsche Industrie argumentiert: Nur wenn eine Beschaffung vertraglich fixiert und langfristig gesichert ist, lohne es sich, in die entsprechenden Produktionskapazitäten zu investieren. Und es stimmt ja auch: Neue Kampfpanzer baut man nicht mal eben so, das ist teuer und logistisch kompliziert, zumal es dafür Panzerstahl benötigt. Nur gibt es da in Europa gerade mal einen einzigen Hersteller. Einen. Den schwedischen Konzern SSAB. Resilienz ist was anderes. Zwar hat die Dillinger Hütte im Saarland vor nicht allzu langer Zeit die Zertifizierung der Bundeswehr bekommen und ist damit das einzige deutsche Werk, das Stahl von, laut Webseite, „besonderem Widerstand gegen Beschuss, Blastbeanspruchung und Splitterwirkung in Verbindung mit hoher Härte, Festigkeit und niedrigem Gewicht“ liefern kann, aber die Investitionen, die es für eine solche Produktion benötigt, sind für ein einzelnes Unternehmen schwer zu stemmen. Der Return of Investment kann bei Jahrzehnten liegen. Selbst bei vollen Auftragsbüchern kann sowas ein Minusgeschäft werden, zumal die Rüstungsbudgets selten strategisch langfristig angelegt sind. So wird aus Einzelplan 14, dem Verteidigungsetat, und vor allem dem Sondervermögen immer wieder Geld verschoben, um kurzfristig -in den Jahren 2024 und 2025-, die der NATO gegebene Zusage von zwei Prozent erfüllen zu können. Das stopft zwar kurzfristig Löcher und dient etwa dem Ankauf von Munition, geht aber immer auch auf Kosten langfristiger Planungen. 

Die Ukraine verbraucht die Produktion an einem Tag.

Zwar habe man, sagt Atzpodien, in der Beschaffung seit dem Amtsantritt von Verteidigungsminister Boris Pistorius „erhebliche Fortschritte“ gemacht, aber Umsteuern, weg von der Einsatzarmee hin zu LV/BV, ist nicht so einfach. 

Erst im Oktober schätzt der norwegisch-finnische Rüstungskonzern Nammo, einer der größten Munitionshersteller Europas, dass es bei gegenwärtigem Produktionsvolumen vierzig Jahre dauern werde, die Munitionsdepots nur der europäischen NATO-Verbündeten wieder aufzufüllen. Einfach weil jahrelang niemand nachbestellt hat. Das norwegische Militär, eigentlich großer Kunde bei Nammo, bestellt in den 1990er Jahren das letzte Mal Artilleriemunition. Schweden zuletzt in den 1980ern. „Darauf“, lässt der Konzern bei einer Anhörung zum Staatshaushalt 2024 im norwegischen Parlament wissen, „haben wir die Produktion ausgelegt.“ Nur werden jetzt Millionen von Geschossen benötigt. „Unsere Aufträge sind bereits dreimal so hoch wie im März 2022", sagt Morten Brandtzaeg, der Chef von Nammo. „Wir haben gesehen, dass in einigen Fällen (in der Ukraine) ganze Jahresproduktionen an einem einzigen Tag verbraucht worden sind“. Nur: Wo keine Produktionskapazitäten sind, kann man nichts produzieren.


Die russische Volkswirtschaft ist 14mal größer als die der Ukraine, aber ein Zwerg im Vergleich zu den westlichen Verbündeten – deren Volkswirtschaften sind, inklusive der USA, knapp 36mal so groß wie die russische. Dennoch produziert die russische Industrie im März 2024 dreimal so viele Artilleriegranaten, wie alle westlichen Verbündeten zusammen.


Sollte die Ukraine diesen Krieg verlieren, dann nicht, weil Russland so stark ist, sondern weil der Westen schwach ist. Das muss allerdings nicht so bleiben, wenn wir wollten, könnten wir Russland an die Wand produzieren. Aber das kostet Geld und politische Willen, strategische Planung und den Gang ins ökonomische Risiko, und so dreht, Stand März 2024, die russische Verteidigungsindustrie den Krieg in Richtung Sieg: Laut estnischen Verteidigungsministerium wird Russland in diesem  Jahr viereinhalb Millionen Artilleriegranaten produzieren. Zwar steigt die amerikanische und europäische Produktion ebenfalls, aber nicht schnell genug. Die USA werden bis Ende 2025 vermutlich eine Kapazität von 1,2 Millionen erreicht haben, die Europäer schaffen vermutlich Ende 2024 1,25 Millionen – der größte Teil davon geht auf das Konto von Rheinmetall. Insgesamt also deutlich weniger. 

Auf Artilleriemunition kommt es in der Ukraine momentan am meisten an. @Rolf Fink

Wie gesagt: Das muss nicht so bleiben. Atzpodien sagt dazu: „Wir brauchen eine zwischen Bundesregierung und Industrie abgestimmte und konsequent umgesetzte Strategie.“ Dazu müsse man die haushaltspolitischen Weichen so stellen, dass der Verteidigungsetat „nachhaltig“ finanziert sei. Was, sind wir ehrlich, bedeutet, dass man mindestens 300 Milliarden Euro in die Bundeswehr investieren muss, um Fähigkeitslücken zu schließen. Kurzfristig gilt: Wenn die mittelfristige Finanzplanung abgeschlossen sein wird, kann man sehen, ob die nachhaltige Finanzierung funktioniert.

Aber selbst wenn, dann ist es kein Selbstgänger: Manche Munitionsarten sind mittlerweile so stark nachgefragt, dass die Lieferzeiten von Monaten auf Jahre verlängert werden. Zumal ohne die Komponenten nichts geht. Treibladungen, Nitroglyzerin, Nitrocellulose, Salpetersäure: alles knapp bis nicht vorhanden. Selbst die USA stellen kein TNT mehr her, im Inland zu teuer. Die beiden wichtigsten Explosivstoffe in amerikanischen Waffen, Hexogen (RDX) und Oktogen (HMX), sind schon vor langer Zeit entwickelt wurden: 1898 und 1941. Das wir nicht genug Quantität haben, ist zudem kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Im gesamten politischen Westen gibt es weder die Produktionskapazitäten, um schnell große Mengen an Munition herzustellen, noch gibt es andere Industriezweige, die schnell auf die Munitionsproduktion umgestellt werden könnten. Und jahrzehntelang hat das niemanden gestört.

Munition ist im gesamten politischen Westen ein Problem.

Die USA etwa bauen ihre Artilleriemunitionsbestände bis zur russischen Vollinvasion der Ukraine ab - weil man in einem potenziellen Krieg in Ostasien zwar mobile Marineinfanteristen benötigt, aber keine schweren Haubitzen. 2022 waren so nur 174 Millionen Dollar für Munition eingeplant, was der Produktion von etwa 75 000 Geschossen des standardmäßigen 155-mm-Hochexplosivprojektils entspricht. Die Russen verbrauchen im Herbst 2023 am Tag etwa 20.000 Geschosse, die Ukraine wohl rund 6000 - das ist in etwa die Menge, die ein kleiner europäischer Staat vor der Invasion im Jahr bestellt hat. Ein einziges Werk gibt es in den USA für die Munition, in Scranton, Pennsylvania. Das ist 1908 gebaut, ein Ausbau der Produktionslinie technisch dementsprechend schwierig. Möglich ist es dennoch, das Ziel ist 2025. Und auch das nur, wenn die Politik in Washington weiterhin an ihrer Unterstützung für die Ukraine festhält. Was aufgrund der strategischen Kurzsichtigkeit der Republikaner gerade sehr zweifelhaft ist.

Die Republikaner opfern die Ukraine aus innenpolitischem Kalkül.

Artilleriemunition ist nicht das einzige Problem: Die USA produzieren sechzig Tomahawk-Marschflugkörper pro Jahr. Alleine in der Nacht auf den 29.Dezember 2023 feuern die Russen 110 Marschflugkörper auf die Ukrainer ab. Und die amerikanischen Lager sind nicht wirklich gut gefüllt: Laut einer knapp ein Jahr alten Studie des Center for Strategic and International Studies (CSIS) würde den Vereinigten Staaten in einem Konflikt in der Taiwanstraße wahrscheinlich in weniger als einer Woche „key long range munitions“ ausgehen, Langstreckenraketenartillerie. Durch die Unterstützung der Ukraine sind zudem andere Lagerbestände kritisch - und nicht einfach so zu produzieren.

Seit fast zwanzig Jahren hat das DoD, das US- Verteidigungsministerium, keine Stinger Flugabwehrraketen bestellt – um dann festzustellen, dass das System in der Ukraine hervorragend funktioniert. Nur hat sich in all der Zeit niemand  um ein Upgrade des Systems gekümmert. Diverse Komponenten im Suchkopf des Flugkörpers werden mittlerweile nicht mehr hergestellt. Teile der Elektronik müssen komplett neu entwickelt, das System danach neu getestet und zugelassen werden. Weil es ursprünglich 1980 in Dienst gestellt wurde, ist zudem das Wissen über die Produktion verloren gegangen. Hersteller Raytheon hat daher Ruheständler zurückgeholt, die junge Kollegen anlernen - anhand von Skizzen, die während der Präsidentschaft von Jimmy Carter erstellt wurden. Das alles dauert. Das Nachfolgemodel ist für „etwa 2028“ angekündigt. Die Beispiele stehen stellvertretend für die westlichen Verbündeten: Als die britische Armee im Frühjahr 2021 zusammen mit Franzosen und Amerikanern in der Übung „Warfighter“ einen hochintensiven Krieg simuliert, müssen sie nach acht Tagen abbrechen. Keine Munition mehr. 

Briten und Franzosen ignorieren die Realität.

Man kann das drehen und wenden, wie man will: Ohne massive Investitionen, ohne politischen Willen, ohne den Bevölkerungen des Westens ständig zu erklären, immer und immer wieder, dass die Befähigung des Militärs der Sicherheit dient und dass die Ukraine uns schützt, wird es nicht gehen. Trotzdem scheint eine Kriegsproduktion in Europa noch immer undenkbar. Und die Lager leeren sich. Es hänge sehr viel davon ab, ob wir es als Gesellschaft schaffen wollten, den von Boris Pistorius angemahnten Weg zur „Kriegstüchtigkeit“ auch wirklich konsequent zu gehen, sagt Atzpodien. Er sagt: „Wir können daher nur hoffen, dass unsere Gesellschaft die Botschaft doch noch verinnerlicht: Um Frieden zu bewahren, muss man sich – leider – auf Krieg vorbereiten“. 

Nun könnte man ihm als Vertreter der Verteidigungsindustrie eine gewisse Voreingenommenheit unterstellen, aber zumindest sollten wir uns darauf einigen können, dass ein hochintensiver Krieg in Europa nicht ignoriert werden sollte. Dennoch bekräftigt erst im Juli 2023 das britische Verteidigungsministerium, dass man an der Verkleinerung des Heeres festhalte. Zwar sei Russland, ein „most pressing national security“ Problem, trotzdem werde man die Zahl der Soldaten bis 2025 auf 73 000 reduzieren - als die Tories 2010 in Downing Street einzogen, betrug die Stärke der British Army noch 102 000 Soldaten. Das Ziel der Reduktion: Fünf Milliarden Pfund einsparen. Dabei ist das britische Militär bereits jetzt massiv unterfinanziert. Die beiden Flugzeugträger der Briten, die HMS Queen Elizabeth und die HMS Prince of Wales, liegen meist im Hafen der Royal Navy in Portsmouth, weil ihnen Begleitboote wie etwa Fregatten fehlen.

Liegt zu oft im Hafen: Die HMS Queen Elizabeth. @Paul Pepperell

In einer Zeit, in der die Russen ihren Rüstungsetat massiv erhöhen, steuern die Briten damit hart an der geopolitischen Realität vorbei – zusammen mit den Franzosen. Deren Fokus liegt laut Streitkräfte-Planungsgesetz bis 2030 in Ostasien, Ziel ist nicht die Aufstellung durchhaltefähiger Großverbände, sondern ein „umfassendes Armeemodell“, was immer das bedeutet. „Es geht darum“, sagt Verteidigungsminister Sebastien Lecornu erst im Januar 2024 vor dem Verteidigungsausschuss, „die überseeischen Gebiete in taktischer und logistischer Hinsicht näher an Frankreich heranzuführen.“ Um die Ukraine geht es nicht so sehr. Daran hat auch Putin nichts geändert. Und als EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton am 9. Januar einen 100-Milliarden-Euro-Fonds zur Förderung der europäischen Verteidigungsindustrie vorschlägt, - nicht nur, um der Ukraine zu helfen, sondern auch, um sich gegen einen amerikanischen Rückzug aus der Nato abzusichern, falls Trump Präsident wird-, passiert: Gar nichts. 

Dabei könnte es durchaus sein, dass wir demnächst wehmütig an eine Zeit zurückdenken, in der wir nur 100 Milliarden Euro zusätzlich ins Militär investiert haben. Im Ernst: Das reicht vorne und hinten nicht.

Der Markt regelt nichts.

Denn nur weil jetzt Artilleriemunition benötigt wird, heißt das nicht, dass das in einem eventuellen Krieg in Südostasien auch der Fall sein wird. Nur weil wir jetzt gepanzerte Verbände brauchen, bedeutet das nicht, dass wir in Zukunft auf kleine amphibische Marineinfanterieeinheiten verzichten können. Wir brauchen beides – obwohl es für letzteres jetzt noch keine Nachfrage gibt. Nur haben wir uns in der Planung unser Sicherheitsarchitektur auf den Markt verlassen. Angebot und Nachfrage sind bei manchen Dingen aber einfach keine gute Idee. Im zivilen Sektor kann man das machen, da können Kunden ihre Aufträge erhöhen oder verringern. Der Produzent sucht sich einfach neue Kunden. Auftragsstopps bei Lenkraketen bedeutet aber, dass keine mehr produziert werden, weil man eben keine anderen Kunden hat. Es gibt nun mal nur einen Abnehmer für Artilleriegranaten: das Militär. Geschlossene Fabriken kann man nicht einfach wieder hochfahren, nichtexistierende Produktionslinien nicht über Nacht aufbauen - schon gar nicht, wenn unklar ist, ob die Produkte dann auch abgenommen werden. Ausgebildetes Personal fällt dazu nicht vom Himmel, sondern geht irgendwann in Rente. Zulieferer stellen ihre Produkte um oder verschwinden vom Markt, womit ihr Wissen verschwindet. Dazu kommt, dass selbst die dümmste Munition Komponenten benötigt, die man im Idealfall strategisch einkauft. Was man aber ohne Planungssicherheit nicht tut.

Immerhin: Die Richtung ist die richtige, in Deutschland zumindest, aber immer noch stehen wir uns selbst im Weg. Ein Grund für die schleppende Bearbeitung ist der Personalmangel im Koblenzer Beschaffungsamt: Von den vorgesehenen 10 800 Planstellen sind 2000 unbesetzt. Auf der anderen Seite, im Parlament, sitzen sechs Leute, sechs, durch die alle Beschaffungsvorlagen erstmal durchmüssen, jeweils zwei der SPD, zwei von den Grünen und zwei aus der FDP. Der gesamte Apparat auf der anderen Seite, Ministerien und Ämter: 13 000 Leute. Den sechs ist jedenfalls nicht langweilig.


Alleine eine ministerielle Zeichnung kann im BMVg bis zu drei Monaten dauern, also Unterschriften sammeln, bis das beim Minister ist. Und das meint auch niemand böse, da sabotiert niemand mit Absicht. Manche Dinge kommen einfach nicht durch. Weil das ganze System so träge ist und noch wie im Frieden funktioniert. Zuständigkeiten sind etwa völlig unklar. Beispiel: An der Sanierung des Fliegerhorsts Wittmundhafen waren sechzehn Behörden eingeschaltet. Da dauerte die Asphaltierung der Landebahn zweieinhalb Jahre. Die letzte „Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung“ Deutschlands ist von Januar 1989, herausgegeben in „5300 Bonn 1“. Dass liegt so lange zurück, dass der erste Satz damals noch lautete: „In den letzten Jahren sind Entwicklungen im West-Ost-Verhältnis in Gang gesetzt worden, deren Fortgang wir alle mit großen Hoffnungen begleiten.“ 


Dazu kommt: Die Langsamkeit ist kein mangelnder politischer Wille, sondern in einer Demokratie systemimmanent. Das ist in den USA, in allen westlichen Demokratien, auch nicht anders als in Deutschland. Langsamkeit soll gewährleisten, dass alle Entscheidung gut erklärt und nachvollziehbar sind. Sie soll einen großen Teil der Gesellschaft mitnehmen, denn das Volk ist der Souverän und der trägt letztlich jede politische Entscheidung. Das es dauert ist daher Absicht. Denn die Suche nach dem Kompromis dauert eben. Der ist aber das Beste, was ein in einer Demokratie gibt. Das führt aber, auch das ist tendenziell im System angelegt, zu Unfrieden auf allen Seiten: Den einen geht es nicht schnell genug, die andere fühlen sich übervorteilt. Das Thema ist dabei egal. 

Keine Demokratie ist in jedem Fall die schlechtere Lösung.

Eine Demokratie wertet erstmal nicht, weil jedes Problem weggearbeitet werden muss. Jedes ist wichtig. Aber: Wie soll man in einer Zeit ständiger Krisen priorisieren, wenn jeder was anderes als „das Wichtigste“ empfindet? Das wiederum führt zur Fokussierung auf Partikularinteressen und gegenseitiger gesellschaftlicher Blockade. In der Parteipolitik bedeutet das: Jeder bedient erstmal seine Wählerbasis, Verteilungskämpfe nehmen zu, was wiederum Kompromisse erschwert. Das Tempo erhöht das jedenfalls nicht. Auch hier gilt aber: Das ist im System angelegt und kann ebenfalls dazu führen, dass alle mit allem unzufrieden sind, weil mehr gestritten wird und alle ein wenig bekommen, aber niemand genug.

Wir brauchen Priorisierung auf das Militär.

Überwunden werden kann der Streit und die Langsamkeit nur mit Priorisierung, auf die sich aber zumindest der Großteil der Gesellschaft einigen muss. Man kann natürlich fragen, ob das System in einer Zeit wie der jetzigen noch passt. Aber die Geschichte lehrt: Demokratien brauchen immer länger, meist Jahre, um in die Gänge zu kommen - gerade dann, wen sie nicht wirklich direkt beteiligt sind. Und das sind wir nicht. 

Sich mit Militär zu beschäftigen hat gerade in Deutschland nie politischen Ruhm versprochen. Es gibt zudem strukturell viel zu wenige Außenpolitiker, in der Politik, in think tanks. Die zentrale Behörde unserer Rüstungsagenda ist dagegen der Bundesrechnungshof - und das sagt schon alles. Dabei geht es dann nicht darum kampffähige Streitkräfte zu haben. Es geht darum, dass der Haushaltsplan eingehalten wird. Das Verteidigungsfähigkeit immer noch keine Nummer 1-Priorität hat, beweist der letzte Bundeshaushalt, weil auch dort die Steigerung nur der Höhe des Tarifabschlusses im Öffentlichen Dienst entsprach. Und das ist schon der beste Haushalt seit Jahrzehnten. Und dann gibt es da das deutsche Vergaberecht: Es zählt der maximal faire Wettbewerb. Schnelligkeit ist nicht das Ziel, Hauptsache alles ist juristisch sauber. Das deutsche Vergaberecht ist dabei so fair, dass es das Vorbild für die EU war. Aber: Es gibt Ausnahmen, wenn es die nationale Sicherheit betrifft. Franzosen und Italiener nutzen diese Ausnahmen ständig, die Deutschen nicht. Dass es geht, zeigt allerdings das Beispiel Hensoldt. Die staatliche KFW Bank fungiert dort im Auftrag der Bundesregierung als Ankeraktionär und hält 25,1 Prozent der Anteile. Begründet wird das mit dem Erhalt und der Weiterentwicklung von nationalen Schlüsseltechnologien. Eine Strategie daraus abgeleitet haben wir allerdings nicht. 

Theoretisch sind wir gut, praktisch noch im Frieden.

Und das gilt in vielen Bereichen, etwa Forschung und Entwicklung: Im Mai 2022 synthetisiert ein Team der Ludwig-Maximilian-Universität in München einen neuen Stoff, der eine Detonationsgeschwindigkeit von 9697 Metern pro Sekunde hat. TNT, RDX und HMX, -übrigens auch alles deutsche Erfindungen-, kommen auf 6700, 8400 und 9100 Meter. Mehr Geschwindigkeit bedeutet mehr Punch durch gehärtete Ziele, zudem mehr und sich schneller bewegende Schrapnelle, was die Zahl der Ziele erhöht. Eine andere Gruppe erforscht neue stickstoffhaltige Treibladungen, weil so nicht nur die Erosion in den Gewehrläufen verringert werden kann: Die chemischen Wirkungen solcher Treibladungen können Waffenrohre bei jedem Abschuss härten. Außerdem haben sie niedrigere Verbrennungstemperaturen als andere Treibladungen, was die Belastung des Materials verringert.

Technisch und potenziell militärisch ist das ziemlich weit vorne, aber großartig publiziert wird es, über Fachkreise hinaus, nicht. Was auch daran liegen kann, dass militärische Forschung in Deutschland immer noch verpönt ist. An 75 deutschen Hochschulen bestehen sogenannte Zivilklauseln, die Forschung an Rüstung und Wehrtechnik verbietet.

Wie weit entfernt Deutschland von einer in Fußgängerzonen immer wieder herbeifantasierten „Kriegswirtschaft“ immer noch ist, zeigen zwei Beispiele: Da ist einmal die Panzerteststrecke von KMW im Nordwesten von München. Eine Bürgerinitiative namens „Schule statt Panzer“ fordert die Stadt München auf, die Panzerteststrecke stillzulegen. Der Grund: Lärmbelästigung. Nur gibt es die Strecke seit 1964, das Gebiet gehörte damals zu den am wenigsten bebauten in der Stadt. Die Strecke war eher da als die Häuser, ein Problem war das nie. Oder DynITEC in Troisdorf bei Köln. Dort werden unter anderem Zündsysteme hergestellt, „für unterschiedlichste militärische Sprengaufgaben“, wie man auf der Webseite nachlesen kann. Im Kalten Krieg war die Stadt der größte deutsche Standort für Explosivstoffe, noch heute gilt sie als Flaschenhals für die Rüstungsindustrie in ganz Europa. Der geplante und benötigte Ausbau scheitert bisher daran, dass sich der Troisdorfer Stadtrat im November mit den Stimmen von CDU und Grünen das Vorkaufsrecht für Teilflächen des bisher von DynITEC nur gemieteten Industrieareals gesichert hat – weil er die Erweiterung ablehnt. Nationale Sicherheitsinteressen? CDU und Grüne vor Ort hätten lieber ein kommunales Gewerbegebiet. Weder Verteidigungsministerium noch Kanzleramt können in beiden Fällen irgendetwas daran ändern. Das Thema ist mittlerweile so akut, dass sich Boris Pistorius ständig über den Fortgang informieren lässt. Auch Anton Hofreiter für die Grünen und Norbert Röttgen aus der CDU sollen auf den schwarz-grün dominierten Stadtrat einreden. Bisher aber geht es nicht voran.

Eine Strategie gibt es nur, wenn Geld dafür da ist.

Im „Strategiepapier zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“ vom Februar 2020 hat die Bundesregierung Schlüsselaufgaben definiert, etwa: mehr nationale Vergaben, mehr Forschung, mehr Rüstungsexport-Chancen. Auf dem Papier ist vieles schon da, zumindest im Überbau. Und auch wieder nicht. Denn schon in der Einleitung wird jede Strategie abhängig gemacht von der Finanzlage: „Die Umsetzung des Strategiepapiers erfolgt im Rahmen der Haushalts- und Finanzplanung der Bundesregierung.“ Eine Strategie im Rahmen der Finanzplanung ist nun alles mögliche, ein Oxymoron zum Beispiel, aber kein strategisches Denken. 


Kein Wunder also, das auch der Rest nicht wirklich umgesetzt ist. Im Strategiepapier steht etwa, dass der „bisher stark fragmentierten europäische Verteidigungsmarkt neu zu gestalten“ ist. Die Verteidigungsindustrie in der EU sei nach wie vor national ausgerichtet. „Europa leistet sich den „Luxus“ zahlreicher Programme…und einer starken Konkurrenz.“


Tatsächlich investierte die EU 2020 227 Milliarden Dollar in Verteidigung. Das war der zweithöchste Etat der Welt - und ist weit mehr, als Russland jemals ausgeben könnte. Theoretisch könnten wir die Aufrüstung im Osten locker kontern. Nur: Sowohl das Geld als auch das damit angeschaffte Material ist kleinteilig verteilt. Laut einer Analyse der EU-Kommission von 2017 verfügen die Europäer inklusive Großbritannien über 17 verschiedene Panzermodelle, während die USA im Wesentlichen auf ein einziges Modell setzen. Dazu kommen 20 unterschiedliche Kampfflugzeuge, in den USA sind es 6, und 29 Zerstörer und Fregatten, in den USA sind das 4. Insgesamt müssen die Armeen in der EU 178 Waffensysteme unterhalten, die USA 30. Die eigentliche finanzielle Power setzt sich so nicht annähernd in Feuerkraft um. Die Vereinheitlichung kann aber nur von den großen Ländern der EU ausgehen und da die Franzosen immer sehr viel Wert auf strategische Autonomie gelegt haben, heißt das: von Deutschland.  

Rüstungsverbandschef Hans Christoph Atzpodien sagt, dass es zur Überwindung unterschiedlicher nationaler Interessen und Souveränitätsideen „erfahrungsgemäß eines sehr klaren politischen Willens der beteiligten Regierungen“ bedürfe. Der ist allerdings nicht absehbar, im Gegenteil: Gemeinsame Projekte kommen nicht wirklich voran. Die Franzosen misstrauen den Deutschen, die Deutschen den Franzosen. 

Beispiel: die Eurodrohne. Das Projekt gehört zu den kostspieligsten Rüstungsvorhaben Europas, sieben Milliarden Euro für 20 Systeme aus je drei unbemannten Flugzeugen. Die Drohne ist 16 Meter lang und hat eine Spannweite von knapp 30 Metern, bis zur Fertigstellung dauert es mindestens bis 2030. Die Frage ist: Bracht man dann noch solche großen Systeme? Die Ukraine zeigt: Man weiß es nicht. Offiziell bestehen „Abstimmungsprobleme“ zwischen Deutschen und Franzosen, aber die deutsche Seite mutmaßt, dass es nicht um Strategie geht, sondern die Franzosen beleidigt sind, weil die Motoren nicht von ihnen geliefert werden, sondern von den Italienern. 

Europäische Zusammenarbeit? Eher nicht.

Weil vor allem in Frankreich, im Gegensatz zu Deutschland, die Regierung direkt an den Unternehmen „ihrer“ Sicherheits- und Verteidigungsindustrie beteiligt sind, fließen oft sehr unterschiedliche Interessen ineinander. Das wird in der Regel schlimmer, je mehr Partner beteiligt sind. Nationale Regierungen haben nationalen Eigenheiten bei Anforderungen, Bau- und Abnahme-Regularien. Zudem haben die unterschiedlichen Armeen unterschiedliche Wünsche. Im zentralen Rüstungsprojekt Kampfpanzer, MCGS, ist so seit 2018 wenig passiert. Die industrielle Führung hat Deutschland bis heute nicht organisiert, europäische Partner wie Polen, das sehr interessiert war, nicht eingebunden. Warschau weicht mittlerweile zum südkoreanischen Modell K2 aus, was die Versorgungswege extrem lang und angreifbar macht, vor allem aber das zentrale Projekt europäischer Verteidigungsfähigkeit zerstört: Den Aufbau gesamteuropäischer Verbände in deren Mittelpunkt die Bundeswehr steht. 

Exportschlager: Die Panzerfaust 3. @Bundeswehr/Carl Schulze

Deutschland steht auch seine sehr restriktive Exportpolitik im Weg, die nicht bei der Skalierbarkeit der Produktion hilft. Kleinserien werden immer teurer bleiben. Zumal die restlichen Europäer auch über den Export konkurrenzfähiger werden. Die europäischen Partner legen wenig Wert auf deutsche Expertise, wenn die verhindert, dass Waffen exportiert werden können. Und natürlich können wir nichts auf Vorrat produzieren, wenn selbst die Herstellung eines Panzers und dann dessen Transport einer Genehmigungspflicht unterliegt. Kriegswaffenkontrollgesetz. Fünf Gesetze und zwei Leitlinien regeln den Umgang mit Waffen. Aber nur wer über eigene schlagkräftige Ressourcen verfügt, kann Entwicklungen auch in seinem Sinn beeinflussen. Wer keine Stärken einbringen kann, ist schlicht Käufer – und kann geopolitisch weniger gut Abhängigkeiten schaffen. 

Man kann Rüsten wie wir Deutschen das tun, darf sich aber dann nicht wundern, wenn es eben nur eine relativ kleinteilige mittelständischen Rüstungsindustrie gibt, die nicht sofort nach Belieben skalieren kann. 

Und selbst wenn das gleiche Waffensystem in unterschiedlichen nationalen Armeen verwendet wird, heißt das nicht, dass es zwischen ihnen kompatibel ist. Obwohl Deutsche und Niederländer die Panzerhaubitze 2000 nutzen und die Modelle die gleichen 155-mm-Geschosse verschießen, funktioniert die deutsche Munition nicht mit den niederländischen Systemen und umgekehrt. Weil der jeweilige Feuerleitrechner sie nicht erkennt. In der Ukraine kann man beobachten, wie das im Gefecht zum Problem wird.  

Panzerhaubitze ist nicht gleich Panzerhaubitze. @Bundeswehr/Jana Naumann

Taurus ist kein Gamechanger, die F16 auch nicht. Der Gamechanger wäre, wenn man Leopard- Munition auch im Abrams verschießen könnte. Erst im Juni 2023 hat auch die NATO in Brüssel mal wieder Standardisierung und Interoperabilität angemahnt. In der Tat ist das lange überfällig – und das würde auch das Problem der Nachbestellung auffangen. Denn auch das ist ein Problem: Kleine Stückzahlen führen unweigerlich zu hohen Kosten. Und wenn nur eine begrenzte Stückzahl eines Produktes abgenommen wird, kann man eher nicht erwarten, dass ein Unternehmen, das nicht dem Staat gehört, von sich aus eine größere Skalierung betreibt. Und selbst wenn: Mehr wird zum Problem der mangelnden Ressourcen aufgrund der nicht-strategischen Planung. Die es nicht gibt, weil es keine langfristige Abnahmegarantie gibt. Die Katze beißt sich in den Schwanz.  

Hilfe für die Ukraine ist Selbsthilfe.

Und weil seit 2012 das Produktsicherheitsgesetz auch für die Bundeswehr gilt und damit an Kampfpanzer die gleichen Standards angelegt werden wie an U-Bahnen, Einbauherde und Wasserkocher, verzögert, verteuert, verkompliziert sich alles zusätzlich. Die Armee kämpft. Sie organisiert Gewalt. Das ist ihre Kernkompetenz. Sie tötet. Sie kann getötet werden. Einen Abgasfilter braucht man da eher nicht

Das kann alles so nicht bleiben. Nicht, weil wir aufrüsten wollen. Sondern weil wir müssen, um den Frieden zu bewahren. Selbst wenn Joe Biden (persönliche Meinung: Der beste US-Präsident seit Jahrzehnten) die Wahl in den USA nochmal gewinnen sollte: Wir müssen die Amerikaner auffangen, völlig egal, was das kostet. Weil die Ukraine vor unserer Haustür liegt. Es ist unser Kontinent. Russland bedroht nicht die USA, sondern uns. Zeitenwende bedeutet nicht, dass wir einmal eine Handvoll Taurus liefern. Es bedeutet, die Lieferung zu verstetigen, in dem wir sie auf eine industrielle Basis stellen. Es bedeutet die Nation abwehrbereit zu machen. Kriegsfähig. Es bedeutet, dass man auf Gewalt mit Gewalt antworten kann, wenn man das muss. Das wird nur gehen, wenn wir einerseits endlich industriepolitisch führen und andererseits das Klein-Klein unserer eigenen Vorschriften beseitigten, die uns daran hindern.  

Unsere Front im Krieg in der Ukraine liegt nicht im Donbass. Sie liegt in den Tiefen der deutschen Bürokratie.