Pünktlich zum 75. Geburtstag trifft sich die NATO im Juli in Washington. Eigentlich könnte der Jubiläumsgipfel gut werden. Eigentlich.
Es könnte alles bestens sein, wenn die Spitzen der NATO-Mitgliedsländer sich morgen, am 9. Juli, im Washingtoner Walter E. Wilson-Convention-Center treffen: Schweden und Finnland sind der Allianz beigetreten. Rund 950 Millionen Menschen stehen damit nun unter dem Schutz der gegenseitigen Beistandspflicht. Zudem ist mit Mark Rutte der neue Generalsekretär gefunden. Die NATO wird 75 Jahre alt und ist so wichtig, wie lange nicht.
Allerdings bedeutet das nicht, das es keine Herausforderungen gibt, im Gegenteil. Gerade mal fünf Jahre ist es her, dass Emmanuel Macron die NATO für „hirntot“ erklärte. Donald Trump leuchtete der Sinn das Militärbündnisses ohnehin nie ein, er nannte die Allianz „obsolet", stellte Artikel 5 infrage und bezeichnete die Verbündeten als Feinde - während er Staaten wie Russland, Nordkorea und China umgarnte. Aber auch ohne Trump hätten die USA sich immer mehr in Richtung Pazifik orientiert, weg von der NATO, schließlich begann diese Entwicklung schon unter Barack Obama. So zynisch es ist: Nur dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist es zu verdanken, dass das Bündnis zu neuer Strahlkraft zurückgefunden hat.
Und das ist Teil des Problems.
Die Frage ist nämlich, ob die aktuelle Bedrohung durch Moskau auch in Zukunft eine ähnliche Bindungswirkung erzeugen kann, wie in den letzten beiden Jahren.
Wie früher: Russland ist wieder "direkte Bedrohung".
In ihrem aktuellen strategischen Konzept von 2022 bezeichnet die NATO Russland erstmals seit dem Kalten Krieg wieder als „direkte Bedrohung“. Aber gerade in Bezug auf die Ukraine ist die Allianz voller Meinungsunterschiede. Während vor allem die Osteuropäer mit einer Aufnahme des Landes aufs Tempo drücken, sehen die alten Mitglieder keinen Grund für zu viel Geschwindigkeit. Schon beim letzten Gipfel in Vilnius im letzen Jahr war das deutlich, als Kiew zwar zugesagt wurde, dass die Ukraine Mitglied der NATO werden wird, wann und unter welchen Bedingungen blieb aber absichtlich offen.
Das wird sich auch auf dem Gipfel in Washington nicht ändern – und zeigt das Dilemma: Es gibt keine langfristige Strategie gegenüber Russland. Willam Alberque, Direktor für Strategie beim Londoner Thinktank IISS, „International Institute for Stategic Studies“, geht noch einen Schritt weiter. Er sagt, die NATO müsse zuerst anerkennen, „dass dies ein langer Konflikt ist. Je eher wir akzeptieren, dass diese Konfrontation für zehn oder zwanzig Jahre anhalten wird, vielleicht auch noch länger, desto eher können wir darüber nachdenken, was unsere Strategie sein sollte.“ Vermutlich, sagt er, sei das nicht mal ein Wladimir-Putin-Problem. „Es ist ein Russland-Problem“. Aber das bedeute eben nicht, dass die NATO sich selbst abschrecken sollte. „Jedes Mal, wenn du deinem Gegner erzählst, was du nicht tun willst, fütterst du ihn“. Damit, sagt er, werde die Idee der Abschreckung zerstört. „Rote Linie sollten nicht für dich selbst gelten, sondern für die anderen.“ Russland selbst, sei „world class“ im Streuen von Zweifeln und Unwägbarkeiten, „dancing around, saying strange things“. Die NATO, sagt Alberque, müsse die Initiative ergreifen und nicht immer nur reagieren.
Dass die Allianz initiativ werden kann, zeigte sie etwa nach dem Kosovokrieg, in deren Folge sich das Bündnis zu einem globalen sicherheitspolitischen Akteur entwickelte. Wie es sich jetzt, nach der Epoche der Stabilisierungseinsätze, global aufstellen will, ist allerdings weitgehend unklar.
Der Weg der NATO? Mal sehen.
Die NATO unterhält ein Netzwerk an Partnerschaften und Formaten, das aber ausgelegt ist, auf eine andere Zeit. Alberque sagt, er höre viele Leute sagen, dass man ein neues Wettrüsten vermeiden wolle. „Russland rüstet seit fünfzehn Jahren, China ebenfalls.“ Ein neuer Kalter Krieg finde ohnehin bereits statt. „Das Einzige, was passiert ist, dass wir nicht darauf reagiert haben.“ Dazu müsse man auch die bisherigen Partnerschaften straffen.
Zwar waren im letzten Jahr in Vilnius auch Partner wie Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan eingeladen, -sie werden auch in diesem Jahr wieder dabei sein-, was das jedoch strategisch bedeutet, darüber gibt es in der Allianz keinen Konsens. Die Eröffnung eines NATO-Verbindungsbüros in Tokio im letzten Jahr scheiterte letztlich an Frankreich. Aber auch die Osteuropäer setzen eher auf lokalen Schutz vor Russland als auf globale Konfrontation mit China. Die USA wiederum würden die NATO gerne in den Pazifik erweitern. „Die beste Strategie für die Europäer wäre, die USA in Europa zu entlasten“, sagt Alberque. Es gehe nicht darum, militärische Macht in den Indopazifik zu transportieren. Vielmehr müsse man anerkennen, dass ein Krieg mit China, sollte er eintreten, kein Landkrieg werde.
Die Europäer müssten daher für den europäischen Schauplatz vor allem in Luftwaffe und Marine und deren Enablern besser werden - damit die USA sich im Falle eines Falls nicht entscheiden müssten, wohin sie Material wie Munition und Treibstoff verlegen. Nur so sei zu gewährleisten, dass die Amerikaner weiterhin in Europa engagiert blieben. Die NATO hat sich diesbezüglich allerdings nicht positioniert, aufgrund der Widersprüche seiner Mitglieder. Wie genau der Umgang mit China sein soll, ist bisher unklar. Das strategische Konzept von 2022 nennt das Land zwar „Herausforderung“, leitet daraus aber nichts ab.
Wie immer: Es geht ums Geld.
Dazu kommt der Streit um die Finanzen, der eigentlich ein Streit um die unterschiedliche Auffassung der Bedrohung ist. Für Spanier und Portugiesen ist Russland weit weg, für Letten und Polen nicht so sehr. Deutschland hat erst Mitte Juni für das laufende Jahr 90,6 Milliarden Euro Verteidigungsausgaben an die NATO gemeldet, was einem Anteil am BSP von 2,12 Prozent entspricht und damit die Zielmarke erfüllt. Viele Verbündete werden diese aber nach wie vor deutlich verfehlen. Das sorgt für Konflikte, da die USA die Lasten für die Verteidigung und die Unterstützung der Ukraine nicht mehr in dem Maße tragen wollen, wie sie das in der Vergangenheit getan haben. Daran würde auch ein (unwahrscheinlicher) Sieg von Joe Biden nichts ändern.
Bestes Beispiel ist der vom scheidenden Generalsekretär Jens Stoltenberg vorgeschlagene Fonds, in den die NATO-Staaten ihre Hilfe an Kiew einzahlen sollen. Mindestens vierzig Milliarden Dollar sollen sie pro Jahr investieren, 0,08 Prozent des eigenen Bruttoinlandsprodukts. Die erste Summe, einhundert Milliarden, war den 32 Mitgliedsstaaten nicht vermittelbar. Und völlig offen ist, ob das mit der niedrigeren Summe funktioniert – richtet sich die Forderung doch nicht an Länder wie Deutschland und die USA, die weitaus mehr tun, sondern vor allem an Staaten, die schon bisher die Ukraine nicht wirklich unterstützt haben, die Südeuropäer etwa. Eine zusätzliche Forderung muss da nicht unbedingt helfen.
Die NATO soll Trumpfest gemacht werden.
Das Beispiel zeigt auch, wie die amerikanische Innenpolitik die Politik der NATO leitet. So hat der Plan, die Koordinierung der westlichen Waffenhilfe in Washington vom sogenannten Ramstein-Format, -das bisher unter der Ägide des amerikanischen Verteidigungsministers tagt und daher vom guten Willen aus Washington abhängig ist- , auf ein neues NATO-Gremium zu übertragen, das in Wiesbaden angesiedelt sein soll, weniger mit Kiews Wünschen zu tun, als mit der sehr realen Gefahr einer erneuten Präsidentschaft von Donald Trump.
Die innere Einheit und die politische Glaubwürdigkeit sind ein weiteres Problem der NATO - schließlich möchte das Bündnis Demokratie und internationale Normen verteidigen, hat aber gleichzeitig Mitglieder wie Ungarn und die Türkei, die eine enge Partnerschaft mit Moskau pflegen und deren Demokratieverständnis zweifelhaft ist. Beide können jede Entscheidung der NATO blockieren. Für ein Militärbündnis besitzt die Nato zudem einen ungewöhnlich hohen Institutionalisierungsgrad – mit dem Nordatlantikpakt als Kern. Das macht Entscheidungsfindungen langsam und angesichts der hybriden Bedrohungslage aus Russland und China kann man zumindest mal überlegen, ob das noch zeitgemäß ist.
Früher war mehr Lametta!?
Im Kalten Krieg waren es nur 14 Verbündete. Das war übersichtlicher, alle waren geeinter, der Gegner war für alle klar definiert. Gerne verklärt als "Die gute alte Zeit." War sie natürlich nie . Trotzdem: Heute ist es komplizierter.
„Wir müssen alle Verbündeten hören", sagt Alberque, "gleichzeitig müssen wir darüber nachdenken, ob es flexiblere Strukturen geben muss.“ Er plädiert für die Möglichkeit eines Opt out, was gerade im Fall Ungarns in Bezug auf die Unterstützung der Ukraine schon geschehen ist. Festgeschrieben ist dieses Verfahren allerdings nicht. Die Frage ist zudem, ob das gut wäre, weil es das Potenzial hat, die Einheit der Verbündeten zu zerstören. Dass die Struktur aber einer Überarbeitung bedarf, hat die NATO bereits selbst erkannt: Vor drei Jahren schlug eine Arbeitsgruppe vor, dass Vetos nur noch von Ministern eingelegt werden dürfen, nicht mehr von Beamten. Das hätte allerdings eine Selbstentmachtung ganze Apparate bedeutet und wurde demzufolge abgelehnt.
Ohne die USA muss es auch gehen.
Eine Überarbeitung der Strukturen ist allerdings auch aus einem anderen Grund sinnvoll: Die Europäer müssen innerhalb der NATO unabhängiger von den USA werden. Auch ohne Donald Trump sind die Interessen auf beiden Seiten des Atlantiks nicht immer deckungsgleich. Bisher gibt es aber kein europäisches NATO- Hauptquartier, das ohne die Amerikaner funktionieren kann. NATO und EU müssen sich einerseits stärker synchronisieren, andererseits in manchen Bereichen aber dennoch doppelte Strukturen schaffen, damit die einen ohne die anderen verteidigungsfähig sind. Das betrifft auch den amerikanischen Nuklearschirm. Der könnte bei einem Wahlsieg Donald Trumps schneller verschwinden, als den Europäern lieb ist. Zwar bietet Frankreich Gespräche darüber an, seine Waffen in eine eigene europäische Abschreckung einzubinden, konkrete Gespräche darüber hat es allerdings noch nicht gegeben. Was passiert, wenn Marine Le Pen französische Präsidentin wird, ist dabei noch nicht eingepreist.
„Die Europäer müssen es den Amerikanern so leicht machen in Europa zu bleiben, wie möglich“, sagt Willam Alberque. Liefern die Europäer, sei das „a future proof of NATO against dump American policy in the future.”
Mittlerweile sind die zentralen Themen der NATO dieselben, die sie auch bei der Gründung der Allianz waren: Abschreckung und Verteidigung. Die Rückbesinnung auf die Bündnisverteidigung darf aber nicht dazu führen, dass die Allianz andere strategische Herausforderungen vernachlässigt. Die Sahel-Zone bleibt instabil, die Bedrohung durch islamistischen Terror akut. Zudem muss die Bestandsaufnahme der Infrastruktur intensiviert werden. Nach dem Kalten Krieg hat die NATO aufgehört Daten über europäische Brücken, Straßen und Tunnel zu sammeln.
Die Deutsche Bahn: Ein Problem für die NATO.
Dazu kommt die Schwäche der deutschen Infrastruktur, etwa bei der Bahn, was letztlich auch ein NATO-Problem ist. Beides ist für den Truppentransport zum Schutz der Ostgrenzen von entscheidender Bedeutung. Mit dem New Force Modell, ebenfalls 2022 als Teil des neuen Strategischen Konzepts beschlossen, geht es zudem nicht schnell genug voran. Das Modell sieht eine Truppenstärke von 100 000 Mann zu Beginn und 500 000 Mann in der letzten Mobilisierungsstufe vor.
Wenn überhaupt, funktioniert das bisher in der ersten Stufe nur mit Einschränkungen – was kein alleiniges deutsches Problem ist. So wird der Beitrag Großbritanniens wohl frühestens 2035 kommen. Und auch die Kommandostruktur ist noch nicht so weit. Stand jetzt werden Finnland und Schweden im Fall des „joint warfighter level“ aus Brunssum in den Niederlanden kommandiert, Norwegen dagegen aus Norfolk in Virginia.
Die Liste der Themen, die zum 75. Geburtstag besprochen werden müssen, ist lang. „Das Gute ist“, sagt Alberque, „dass wir jetzt wissen, was wir tun müssen.“ Die NATO habe zum ersten Mal seit 1992 einen „standing defense plan“. „Die Knappheiten sind nicht mehr nur theoretischer Natur, sondern ganz handfest“. Die Allianz wisse, was sie ändern müsse. Aber optimistisch sei er nur, wenn die Europäer „anfangen zu liefern“. Nur dann könne die Allianz Russland und China gleichzeitig begegnen.
Einfach wird das nicht werden.
Weiß selbst, was geändert werden muss: Jens Stoltenberg in der letzten Pressekonferenz vor dem Meeting in Washington.
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